- türkische Literatur
- tụ̈rkische Literatur,im engeren Sinn die Literatur der Türken Anatoliens und der europäischen Türkei in vorosmanischer, osmanischer und nachosmanischer Zeit.Die altanatolisch-türkische Literatur:Die altanatolisch-türkische Periode (13.-15. Jahrhundert) umfasst sowohl das an den Höfen der türkischen Kleinfürstentümer Anatoliens entstandene rumseldschukische Schrifttum als auch die altosmanische Literatur. Die Literaturdenkmäler der Zeit vor der Eroberung Konstantinopels sind meist sprachlich-stilistisch schlichte, oft auf mündliche Tradition basierende Texte in gebundener und ungebundener Form: historische Aufzeichnungen anonymer Chronisten, Heiligenlegenden, Heldensagen, Lobdichtungen auf lokale Herrscher. Wichtige literarische Zentren waren Konya, Bursa und Aydɪn. Die ersten bedeutenden Vertreter der sufischen Derwischdichtung waren Sultan Veled und der volkstümliche Mystiker Junus Emre, der die spätere Dichtung stark beeinflusste. Schulebildend wirkte auch Nesimi, der zugleich der frühaserbaidschanischen Literatur angehört. Süleiman Tschelebis Gedicht auf die Geburt des Propheten Mohammed nimmt noch heute einen zentralen Platz in der Volksfrömmigkeit ein. Von bedeutenden Dichtern wie Ahmedi, Fachri und Schejchi (* 1389, ✝ nach 1430) liegen türkische Bearbeitungen romantischer islamischer Epenstoffe vor. Im 13. und 14. Jahrhundert wirkten ferner Ahmed Fakih, Schejjad Hamsa, Dehhani, Gülschehri, Aschyk Pascha und Kadi Burhaneddin. Ein wichtiges Zeugnis der Volksdichtung ist der ogusische Epenzyklus Dede Korkut. Ein bekannter Vertreter der Volkspoesie war Kaygusuz Abdal (✝ 1444).Die klassisch-osmanische Literatur:Für die klassisch-osmanische Hochliteratur (etwa ab 1453) waren in einem noch stärkeren Maße persischer Vorbilder maßgeblich. Sie orientierte sich an einem schematischen Formideal, wirkt oft überladen und ist in mit zahlreichen persisch-arabischen Elementen durchsetzter hochosmanischer Sprache verfasst. Die führende Literaturgattung war die Poesie, die in ihren lyrischen und epischen Spielarten Formen, Bilder und Motive der persischen Klassik übernahm und oft eine erhebliche formale Virtuosität erlangte. Mit ihrer Mischung von arabisch-persischen und türkischen Elementen, Metaphern, Wortspielen u. Ä. war sie nur den Gebildeten verständlich. Zu den führenden Dichtern zählen im 15. Jahrhundert Ahmed Pascha (✝ 1497), im 16. Jahrhundert Baki, Fuzuli, Lamii (* 1472, ✝ 1532) und der sprachlich wie thematisch originelle Jachja Bej (✝ um 1582), im 17. Jahrhundert der Satiriker Nefi und der thematisch vielseitige Sabit (* um 1650, ✝ 1712), im 18. Jahrhundert A. Nedim sowie Scheich Ghalib (* 1757, ✝ 1799). Als Dichter traten nicht selten auch Sultane und Prinzen hervor. Die Prosa beschränkte sich weitgehend auf Theologie, Historiographie, biographische Werke, Reiseberichte und Briefliteratur. Hofchronisten und Reichsannalisten leisteten - neben Lobpreisungen der jeweiligen Herrscher - wichtige Beiträge zur islamischen Geschichtsschreibung. Zu nennen sind v. a. die Historiker Aschykpaschasade (✝ nach 1484), Neschri (✝ um 1520), Kemalpaschasade (* 1469, ✝ 1535), Ibrahim Petschevi (* um 1574, ✝ um 1650) und Mustafa Naima (* 1655, ✝ 1716). Zum Informationsschrifttum gehören u. a. geographische, astronomische, kosmographische und militärwissenschaftliche Arbeiten. Biographische Werke in arabischer Sprache stammen u. a. von Taschköprüsade Ahmed (* 1495, ✝ 1561). Als bedeutendster osmanischer Polyhistor und Bibliograph gilt Katib Tschelebi (* 1609, ✝ 1657). Wertvolle Zeitdokumente sind v. a. auf eigener Anschauung der Autoren beruhende Arbeiten, z. B. das umfangreiche Reisewerk Evlija Tschelebis (mit Daten zu Volkskunde, Zeitgeschichte u. a.). Neben der Hochliteratur existierte eine Volksliteratur mit Märchen, Anekdoten, Legenden, Gesängen, Rätseln und Sprichwörtern. Bekannte Vertreter der Troubadourdichtung (»Âşɪk«-/»Aschyk«- oder »Saz«-Dichtung) waren Pir Sultan Abdal (16. Jahrhundert) und Karadjaoghlan (17. Jahrhundert). Volksschauspielgattungen waren das komisch-satirische Schattenspiel (Karagöz), das Puppenspiel und das »orta oyunu«, eine Art Schauspielertheater ohne Bühne.Westlich beeinflusste Literatur:Im Zuge politisch-kultureller Reformen im 19. Jahrhundert wurden europäische Literatureinflüsse dominierend. In der »Tansimat«-Zeit (der 1839 durch einen Erlass des Sultans eingeleiteten Epoche politischer Reformen) kam es zur entscheidenden Zäsur, indem eine von französischen Vorbildern geprägte Erzählliteratur entstand, die die beginnende geistige Umorientierung der osmanischen Oberschicht förderte. Literaten, die durch eigene Prosawerke, Übersetzungen und Adaptionen hierzu beitrugen, waren u. a. Ahmed Midhat, Siya Pascha (* 1825, ✝ 1880), Ahmed Wefik Pascha, Redjaisade Mahmud Ekrem (* 1847, ✝ 1914), Muallim Nadji (* 1850, ✝ 1893). I. Schinasi wirkte u. a. auch für eine Publizistik und Bühnendichtung im europäischen Sinne. M. Namik Kemal war der erste bedeutende Vertreter einer patriotischen Dichtung. Als der größte Poet der »Tansimat«-Zeit gilt A. H. Tarhan. Zur Durchsetzung westlicher Tendenzen trugen v. a. die um die Zeitschrift »Servet-i fünûn« (»Der Schatz des Wissens«) gruppierten Autoren der »Neuen Literatur« bei, u. a. Tevfi̇k Fi̇kret, Hali̇d Zi̇ya Uşakligi̇l (* 1866, ✝ 1945), Mehmed Rauf (* 1875, ✝ 1931), am Rande auch M. E. Yurdakul und der Naturalist Hüsei̇i̇n Rahmi̇ Gürpinar (* 1864, ✝ 1944). Eine wichtige Rolle spielte auch die europäisch orientierte Gruppe »Fecr-i âtî« (»Morgenröte der Zukunft«). Verbindung von Elementen des französischen Symbolismus mit traditionellen orientalischen Formen kennzeichnet die Werke der Lyriker Ahmed Haşi̇m und Y. K. Beyatli. Nach 1908 dominierten die vom »Türkismus« des Zi̇ya Gökalp beeinflussten, national und sprachpuristisch orientierten Autoren, zuerst die der Gruppe »Genç kalemler« (»Junge Federn«), v. a. Ömer Seyfetti̇n. »Syllabisten« wie Faruk Nazi̇f Çamlibel (* 1898, ✝ 1973) lehnten die quantitierende arabisch-persische Metrik zugunsten der traditionell-türkischen silbenzählenden Versmaße ab. Einer der bedeutendsten Erzähler der beginnenden »nationalen Literatur« war R. H. Karay.Die republikanische Literatur:Die junge Literatur der republikanischen Zeit war stark patriotisch geprägt. Nach der Schriftreform (Ersetzung der arabischen Schrift durch die Lateinschrift 1928) und den Sprachreformen (türkische Sprache) erfolgte eine Vitalisierung des literarischen Lebens. Die Prosa, meist in Form von Kurzgeschichten und Kurzromanen, gewann an Eigenständigkeit durch Autoren wie H. E. Adivar, Reşat Nuri̇ Günteki̇n (* 1889, ✝ 1956) und Y. K. Karaosmanoğlu, die u. a. den nationalen Freiheitskampf und den sozialen Wandel in der neuen Türkei schilderten. Bedeutende Zeitzeugen und Erzähler waren auch Memduh Şevket Esendal (* 1883, ✝ 1952), Ruşen Eşref Ünaydin (* 1892, ✝ 1959), Beki̇r Sitki Kunt (* 1905, ✝ 1958), der die psychologischen Konflikte dieses Wandels analysierende Peyami̇ Safa (* 1899, ✝ 1961) und der eher nostalgisch zurückblickende Abdülhak Şi̇nasi̇ Hi̇sar (* 1883, ✝ 1963). In den 1930er- und 1940er-Jahren entstand eine realistische Erzählliteratur, die Probleme des Alltags und die Lebenssituation des »kleinen Mannes« verarbeitete. Ein früher Vertreter der sozial engagierten Richtung war der Novellist Sadri̇ Ertem (* 1900, ✝ 1943). Schulebildend wirkten Sabahatti̇n Ali̇s Bilder aus dem anatolischen Provinzleben und S. F. Abasiyaniks impressionistischen Skizzen aus Istanbul. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandte sich die Prosa zunehmend sozialkritischen Themen zu. A. Nesi̇n spiegelt in seiner satirischen Prosa die vielfach widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnisse der modernen Türkei. Die von Mahmut Makal (* 1930) eingeleitete und mehrere Jahrzehnte dominierende »Dorfliteratur« behandelt gesellschaftliche Probleme aus der Sicht der Landbevölkerung Anatoliens. Kemal Tahi̇r, Yaşar Kemal, F. Baykurt, Kemal Bi̇lbaşar (* 1910, ✝ 1983), S. Kocagöz u. a. gaben hervorragende Schilderungen des anatolischen Dorflebens. Orhan Kemal beschrieb u. a. auch die sozialen Folgen von Urbanisierung und Slumbildung. Andere bekannte Erzähler sind u. a. Hali̇karnas Balikçisi (* 1886, ✝ 1973), Ahmet Hamdi̇ Tanpinar (* 1901, ✝ 1962), İlhan Tarus (* 1907, ✝ 1967), Rifat Ilgaz (* 1911, ✝ 1993), Haldun Taner (* 1915, ✝ 1986), Orhan Hançerli̇oğlu (* 1916), Tarik Buğra (* 1918), Mehmed Seyda (* 1919), Oktay Akbal (* 1923), Muzaffer Buyrukçu (* 1928) und Tarik Dursun K. (* 1931). Von Kemal Tahi̇r stammt eine Reihe kritischer Romane zum historischen Hintergrund der modernen Türkei. Eine bedeutende moderne Theaterdichtung entstand erst in der republikanischen Zeit. Für die Bühne schrieben mehrere der genannten Prosaschriftsteller sowie der Lyriker Nazim Hi̇kmet. Als Dramenautoren traten ferner Cevat Fehmi̇ Başkut (* 1905, ✝ 1971), Sabahatti̇n Kudret Aksal (* 1920), Recep Bi̇lgi̇ner (* 1922), Cahi̇t Atay (* 1925) und Çeti̇n Altan (* 1926) hervor. Die moderne türkische Lyrik weist früh relativ freie Formen auf. Einige der »Syllabisten«, z. B. Yusuf Zi̇ya Ortaç (* 1895, ✝ 1967), Neci̇p Fazil Kisakürek (* 1905, ✝ 1983) wirkten weiter beziehungsweise fanden zu neuen Formen. In bewusstem Gegensatz zu dem am Anfang des Jahrhunderts entstandenen Neoklassizismus und Ästhetizismus führte Nazim Hi̇kmet den freien Vers und die Volkssprache in die Poesie ein. Dieser zu Lebzeiten in der Türkei als Marxist politisch verfolgte Autor hat der modernen türkischen Dichtung Weltgeltung verschafft. Ähnliche Wege im Formalen gingen die jüngeren Lyriker O. V. Kanɪk, Meli̇h Cevdet Anday (* 1915) und Oktay Ri̇fat, Vertreter der (nach dem Lyrikband Garip »Fremdartig« benannten) »Garip«-Gruppe und der »ersten Moderne«, die nach Versachlichung und Vereinfachung der Poesie strebte. Andere bedeutende Lyriker waren Cahi̇t Sitki Taranci (* 1910, ✝ 1956), F. H. Dağlarca, B. Necati̇gi̇l, Cahi̇t Külebi̇ (* 1917), Necati̇ Cumali (* 1921), Özdemir Asaf (* 1923, ✝ 1981), Atti̇lâ İlhan (* 1925), Ümit Yaşar Oğuzcan (* 1926), Meti̇n Eloğlu (* 1927), Cemal Süreyya (* 1931) und Ülkü Tamer (* 1937). Oktay Ri̇fat vertrat auch die als schwer zugänglich geltende, v. a. für abstrakte Lyrik bekannte »zweite Moderne«, der z. B. auch İlhan Berk (* 1916), Edi̇p Cansever (* 1925, ✝ 1986), Turgut Uyar (* 1927, ✝ 1985) und Ece Ayhan (* 1931) angehörten. Der bekannteste moderne Vertreter der alten Volkssängertradition ist Aşik Veysel Şatiroğlu (* 1894, ✝ 1973). Einige kritische Autoren waren zeitweise, v. a. in den 50er-Jahren, politische Repressalien (Publikationsverbot, Gefängnisstrafen u. a.) ausgesetzt; Nazim Hi̇kmet, Kemal Tahi̇r und Orhan Kemal fanden später aber allgemeine (auch internationale) Anerkennung.Die Literatur der Gegenwart:Auf die politisch engagierte Literatur der 1960er- und 70er-Jahre folgte schon einige Jahre vor dem Militärputsch 1980 eine Reaktion, die u. a. Pluralismus und größere Offenheit für internationale Strömungen förderte. Der frühere sozial engagierte Realismus mit seinen spezifischen Motiven ist einer vielschichtigeren Realitätsdarstellung gewichen. Behandelt werden u. a. - oft anhand einzelner Schicksale, auch verstärkt von Frauen verschiedener Schichten - gesellschaftliche und psychologische Folgen der raschen Industrialisierung und Verstädterung. Zu den führenden Prosaautoren und -autorinnen gehören z. B. A. Ağaoğlu, Nezi̇he Meri̇ç (* 1925), Tahsi̇n Yücel (* 1933), Füruzan (Selçuk; * 1935), Sevgi̇ Soysal (* 1936, ✝ 1976), Feri̇t Edgü (* 1936), Aysel Özakin (* 1942) und Seli̇m İleri̇ (* 1949). Besonders bekannt wurden die Romane Orhan Pamuks (* 1952), mit denen die türkische Literatur in die Postmoderne eintritt, z. B. »Beyaz kale« (1985) mit interessanten historischen Perspektiven auf die türkische Gegenwart. Für die Bühne schrieben einige der erwähnten Prosaisten (Meri̇ç, Ağaoğlu u. a.) sowie z. B. Orhan Asena (* 1922), Güngör Di̇lmen (* 1930) und Turgut Özakman (* 1930). Unter den zahlreichen Lyrikern sind z. B. Gülten Akin (* 1933) und Hi̇lmi̇ Yavuz (* 1936) zu nennen. Unverkennbar ist seit den frühen 90er-Jahren in der türkischen Erzählliteratur der Trend zu einer selbstbewussten entschieden islamischen Literatur, z. B. als Bildungs- und Historienroman und in der Lyrik.Seit Ende der 1960er-Jahre entwickelt sich eine türkische Literatur auch in Westeuropa, besonders in Deutschland, die sich zum Teil mit der Situation der Arbeitsmigration auseinander setzt. Vertreter sind der Lyriker und Erzähler Aras Ören (* 1939), der Lyriker und Essayist Yüksel Pazarkaya (* 1940) und (seit 1979) F. Baykurt. Einige deutschlandtürkische Autoren (z. B. Ören; Pazarkaya; Şi̇nasi̇ Di̇kmen, * 1945) und Autorinnen (u. a. Emi̇ne Sevgi̇ Özdamar, * 1946) schreiben auch in deutscher Sprache.Anthologien:Die Pforte des Glücks u. a. türk. Erzählungen, hg. v. H. W. Brands (21969);Moderne türk. Lyrik, hg. v. Y. Pazarkaya (1971);Türk. Volksmärchen, hg. v. P. N. Boratav (a. d. Türk., Neuausg. 1990),Türk. Märchen, hg. u. übers. v. O. Spies (21.-22. Tsd. 1991);B. Pflegerl: Es war einmal, es war keinmal. Türk. Volksmärchen (Wien 1992);Türk. Erzählungen des 20. Jh., hg. v. P. Kappert u. a. (1992).O. Spies: Die türk. Prosalit. der Gegenwart (1943);Philologiae Turcicae Fundamenta, hg. v. J. Deny, Bd. 2 (1965);W. G. Andrews: An introduction to Ottoman poetry (Minneapolis, Minn., 1976);Türk dili ve edebiyatɪ ansiklopedisi, auf mehrere Bde. ber. (Istanbul 1976 ff.);A. S. Levend: Türk edebiyatɪ tarihi (Ankara 31988);B. Necati̇gi̇l: Edebiyatɪmɪzda isimler sözlüğü (Istanbul 131989);W. Riemann: Über das Leben in Bitterland. Bibliogr. zur türk. Dtl.-Lit. u. zur türk. Lit. in Dtl. (1990);T. L. in dt. Sprache. Eine Bibliogr., bearb. v. T. Demir u. a. (1995);Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:islamische Literatur: Das Schrifttum der Araber, Perser und Türken
Universal-Lexikon. 2012.